DGUV Pluspunkt
Reportage: Die Teamplayer
Stefan Layh
Autor
Stefan Klübert
Fotos
Viele Köche verderben den Brei? Das sehen die beiden Schulleiter der Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe ganz anders und setzen konsequent auf Partizipation. Der gemeinschaftliche Ansatz zahlt sich auf vielen Ebenen aus – und brachte beim Deutschen Lehrkräftepreis den ersten Platz in der Kategorie „Vorbildliche Schulleitung“.
Als die gute Nachricht kam, steckte der Konrektor gerade im Hasenkostüm. „Im Lockdown haben wir wöchentlich kleine Videos für die Schulgemeinschaft gemacht“, erinnert sich Dominik König-Kurowski, stellvertretender Schulleiter der Ernst-Reuter-Schule (ERS) in Karlsruhe. „Ein wiederkehrendes Element war der ‚Hase der Hoffnung‘. Ich hatte mich gerade für meinen Auftritt verkleidet, da rief eine Kollegin an: ‚Checkt mal eure Mails …‘“ Gemeinsam mit Schulleiter Micha Pallesche, der die Hasen-Szene gerade filmen wollte, staunte er nicht schlecht: Die beiden waren beim Deutschen Lehrkräftepreis in der Kategorie „Vorbildliche Schulleitung“ nominiert – bei der Preisverleihung in Berlin sprang dann der erste Preis heraus. „Dass das Kollegium uns dafür vorgeschlagen hatte, wussten wir bis dahin gar nicht“, sagt der Konrektor der Ganztagsschule. „Weil diese Initiative aus unserem Team kam, sind wir auf diese Auszeichnung sehr, sehr stolz.“ Dem vorausgegangen war ein längerer Findungsprozess, den das damals neu eingesetzte Schulleitungsteam im Jahr 2016 initiierte.
Mühe, die sich lohnt
„Uns war vom ersten Tag an klar: Den Herausforderungen an die Schule können wir nicht allein mit einem 40-köpfigen Kollegium begegnen. Dafür sind die Gesellschaft und ihre Fragestellungen viel zu komplex“, sagt Schulleiter Micha Pallesche. „Wir verstehen uns hier als große Gemeinschaft, in der alle mitdenken und mitgestalten sollen. Diese Art der Partizipation ist auch mal anstrengend, aber es zahlt sich aus – für die Motivation, die Arbeitszufriedenheit und natürlich auch für die Gesundheit.“
Wir kooperieren mit Hochschulen und Firmen, laden Experten zur Unterstützung ein und besuchen selbst die Menschen in unserem Viertel, um auch dort zu lernen.
Mit „alle“ meint er nicht nur das Kollegium, das etwa beim monatlichen Jour fixe – „einem echten ‚Auskotztermin‘, der aber immer lösungsorientiert und deswegen extrem hilfreich ist“ – möglichen Frust kanalisieren und alles besprechen kann, was nicht rundläuft. Zur Schulgemeinschaft zählen genauso die Schülerinnen und Schüler, deren Eltern und auch die Menschen aus der angrenzenden Wohngegend. „Wir betrachten die Schule als einen total agilen Ort“, erklärt Micha Pallesche. „Wir kooperieren mit Hochschulen und Firmen, laden Experten zur Unterstützung ein und besuchen selbst die Menschen in unserem Viertel, um auch dort zu lernen.“
„Willkommen im Roten Salon“
Ein Paradebeispiel für diesen gelebten Gemeinschaftssinn liefert der zweimal jährlich stattfindende „Rote Salon“. In für den Anlass umgestalteten Schulräumen kommen Interessierte und Engagierte aus all den oben genannten Personengruppen zusammen, um sich großen Themen wie etwa der Frage „Wie soll Schule in fünf Jahren aussehen?“ zu widmen. Wohlgemerkt bei einem freiwilligen Angebot außerhalb der Schulzeit. „Beim letzten Mal waren mehr als 60 Leute dabei. Ganz wichtig ist uns, dass am Ende etwas herauskommt, das auch umgesetzt wird“, sagt Dominik König-Kurowski. Der Weg dorthin kann ganz unterschiedlich verlaufen. Mal finden die Teilnehmenden durch inszenierte Exit-Games zu einer Problemlösung, mal durch einen inszenierten Aufmarsch über den per Nebelmaschine verschleierten Schulhof. „Damals mussten die einzelnen Gruppen kleine Demonstrationen planen und ihren Forderungen mit Plakaten und Megafonen Nachdruck verleihen“, erinnert sich der Konrektor. Die Idee dahinter: Wer etwas erreichen will, muss raus aus der Komfortzone und sein Anliegen für die anderen spürbar machen. „Das war für alle ein nachhaltiges Erlebnis, das zu fruchtbaren Diskussionen und einigen konkreten Verbesserungen geführt hat.“ Für die Schulleitung sei der „Rote Salon“ außerdem eine Möglichkeit, eher unangenehme Dinge anzustoßen. „Wenn sich die Schulgemeinschaft in diesem Gremium mit einem Thema beschäftigt und einen Lösungsansatz kreiert hat, geht das Ganze anschließend meist locker durch die Gesamtlehrer- oder Schulkonferenz.“
Lernen ohne Grenzen
„Wir haben eine tolle Schulleitung, deren Türen und Ohren immer offen sind für ein Gespräch oder einen neuen Gedanken“, bestätigt Dominik Oebel. „Dieser wertschätzende Austausch hilft auch in belastenden Phasen.“ Er unterrichtet seit mehr als vier Jahren an der ERS Englisch, Geschichte, Gemeinschaftskunde – und neuerdings auch TheA. „Themenorientiertes Arbeiten“ ist ein neu geschaffener Fächerverbund für die Klassen 5 bis 7, in dem mehrere Nebenfächer lehrplankonform verschmelzen. „Zu Beginn der Corona-Pandemie haben wir uns überlegt, wie wir gerne unterrichten würden, um die Kinder bestmöglich auf das Leben vorzubereiten“, blickt er zurück. Resultat: Der Unterricht der Zukunft soll handlungs- und projektorientiert sein, mehrdimensional und nachhaltig. „Besonders wenn es um Nachhaltigkeit geht, hängen viele Themen auf komplexe Weise miteinander zusammen“, erklärt Dominik Oebel. „Zur Problemlösung gehören Kommunikation und Kooperation, auch über Fächergrenzen hinweg. Deswegen haben wir diese Grenzen aufgelöst.“ Statt der Einzelstunden in „Biologie – Naturphänomene – Technik“ (BNT), Geografie und Physik haben die Jahrgangsstufen 5 und 6 an einem Vormittag in der Woche vier Unterrichtsstunden TheA. In der siebten Klasse fließen auch Geschichte und Chemie ein. „Das fördert den Austausch im Kollegium, weil immer mehrere Fachlehrkräfte ihren Beitrag zur Unterrichtsvorbereitung leisten“, sagt Dominik Oebel. Der erweiterte zeitliche Rahmen der Vier-Stunden-Blöcke ermögliche eine tiefgründige Betrachtung von Themenkomplexen wie etwa „Der Mais, die
Bienen und das Klima – (k)eine Liebesbeziehung?“ aus verschiedenen Fachperspektiven und bringe einen großen Mehrwert für alle – Lehrkräfte eingeschlossen. „Unsere Schulleitung bietet uns die Möglichkeit, solche Dinge anzustoßen“, erklärt Dominik Oebel. „Diese Selbstwirksamkeit an der Schule zu spüren, ist unbezahlbar.“
Statt Einzelstunden ermöglichen Vier-Stunden-Blöcke tiefgründigere Betrachtungen von Themenkomplexen wie „Der Mais, die Bienen und das Klima – (k)eine Liebesbeziehung?“
Projektfach L.E.B.E.N.
Auch die Schülerinnen und Schüler können Selbstwirksamkeit erfahren, im Projektfach L.E.B.E.N. zum Beispiel.
„Da werden wir in kleinen Schritten auf unser weiteres Leben vorbereitet“, sagt Nattisha aus der 7b. „Wir lernen unter anderem, wie man offizielle Mails formuliert, Formulare ausfüllt oder ein Bankkonto eröffnet.“ Außerdem müssen die Jungen und Mädchen kleine, altersgerechte „Verantwortungsjobs“ übernehmen, die ganz bewusst eine Verbindung mit der Welt außerhalb der Schule schaffen. „Ich habe im Mehrgenerationencafé Zeit mit älteren Menschen aus dem Stadtteil verbracht, ab der achten Klasse darf ich sie dann beim Einkaufen unterstützen“, zählt die 13-Jährige auf. „So erfahren wir, wo und wie wir als junge Menschen in der Gesellschaft mithelfen können.“ Ihre Freundin Larissa trifft sich als Klassensprecherin regelmäßig mit den Vertrauenslehrkräften. „Das Beste ist: Wir reden nicht nur über Wünsche und Sorgen, sondern finden oft Lösungen, die auch wirklich umgesetzt werden“, sagt Larissa. „Das ist auch wichtig, weil die Ganztagsschule wie ein zweites Zuhause ist, da sollte sich jeder wohlfühlen. Daran können auch wir Schüler mitarbeiten.“
Mehr Freude, weniger Fehlzeiten
Mitdenken, mitgestalten, sich als Teil des Ganzen fühlen: Die positiven Effekte der Partizipationsangebote lassen sich täglich spüren, findet Micha Pallesche. „Alle übernehmen Verantwortung, für den Lernprozess genauso wie für die Entwicklung der Schule“, sagt der Schulleiter. „So wird die Schule zu einem ‚Wir-Ort‘, den alle besser machen wollen.“ Im Umkehrschluss führe das dazu, dass jede und jeder Einzelne hier glücklicher sei und auch stressige Phasen besser gemeistert werden könnten. Resultat: Mit der gestiegenen Zufriedenheit, dem wertschätzenden Umgang und dem offenen Austausch auf Augenhöhe sanken die Fehlzeiten und die Personalfluktuation deutlich. „Mit Corona, Erkältungswellen und Fachkräftemangel haben natürlich auch wir zu kämpfen“, sagt Dominik König-Kurowski. „Aber wir haben seit Jahren quasi keine Versetzungsanträge mehr, niemand will hier weg.“
Dass der partizipative Ansatz ankommt, bestätigt auch Dominik Oebel beim Blick auf das Gewusel auf dem Schulgelände. „Wenn ich den ganzen bunten Trubel aus TheA-Projektgruppen, AGs oder lachenden Menschen sehe, in dem sich alle mit ihren Stärken einbringen und Selbstzufriedenheit ausstrahlen“, sagt der TheA-Lehrer, „dann denke ich: Es fühlt sich toll an, ein aktiver Teil dieser Schulgemeinschaft mit einer grundpositiven Atmosphäre zu sein. Genau deswegen bin ich Lehrer geworden.“
Die Reportage ist erschienen in: DGUV PlusPunkt; Ausgabe 2/2023. „pluspunkt“ ist ein Angebot der Unfallkassen für Schulen. Es erscheint vier Mal im Jahr und wird Schulen kostenfrei zur Verfügung gestellt.
Artikel veröffenticht
30.10.2023 - 16:17 Uhr
Kategorie
Universum
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